Neue Sachlichkeit
Interview mit Florian Ebner | Centre Pompidou Paris
Interview mit Florian Ebner, Leiter der Sammlung Fotografie am Centre Pompidou Paris, zur Neuen Sachlichkeit
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Herr Ebner, die Ausstellung Allemagne / Années 1920 / Nouvelle Objectivité / August Sander – ab dem 11. Mai im Centre Pompidou Paris – widmet sich der Präsentation verschiedener Kunstgattungen der Zeit der Weimarer Republik Ende der 1920er Jahre: Fotografie und Film, Malerei, Literatur, Theater, Architektur, Musik, Design. Eine Zeit reichhaltiger Verflechtungen der Künste. Auf diesem Fundament stehen auch die Publikationen des Verlags Ullstein in Berlin in den 1920er Jahren, auf die wiederum die fotografische Sammlung Ullstein zurückgeht: Die Dame oder Der Querschnitt, begründet von Alfred Flechtheim, sind ohne die Voraussetzung grenzübergreifenden, künstlerischen Denkens gar nicht vorstellbar. Sie ist elementar für das Zusammenkommen der Werke von Fotografinnen und Fotografen wie Suse Byk, Madame d’Ora, Frieda Riess, Martin Munkácsi oder Karl Schenker mit Werken bildender Künstler von Oskar Kokoschka, Lyonel Feininger, Amedeo Modigliani oder Schriftstellern wie Klabund, Robert Walser, Elke Lasker-Schüler und Georg Hermann.
Welche Rolle spielt die gegenseitige Einflussnahme, die Zwiesprache der verschiedenen Künste in der Ausstellung am Centre Pompidou?
In der Tat versucht die Ausstellung an die große Tradition der pluridisziplinären Ausstellungen anzuknüpfen, die seit 1977 am Centre Pompidou stattgefunden haben, etwa Paris-New York (1977) oder Paris-Berlin (1978). Die Zwiesprache der Künste, wie Sie es nennen, gehört zur DNA des Centre Pompidou, und für diese Ausstellung hat meine Kollegin Angela Lampe, die federführend für diesen Teil der Ausstellung war, sorgsam darauf geachtet, dass dieser Dialog gewahrt wird und signifikante Werke, die ganz und gar den Geist der Neuen Sachlichkeit atmen, aus allen Gattungen in dieser Ausstellung vertreten sind. Da Sie bereits die Zeitschrift Der Querschnitt genannt haben, für uns ist der Begriff eine Art künstlerische Schlüsselmethodik, die in jenen Jahren am Werke ist. Man findet sie in den Querschnittfilmen jener Jahre, wie etwa Walter Ruthmanns Berlin. Symphonie der Großstadt (1927) Otto Dix‘ Großstadt-Triptychon (1927-1928) dessen großartiger vorbereitender Karton in der Ausstellung vertreten ist, Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, von dem einige Seiten sein Montage-Prinzip verdeutlichen, Flechtheim selbst ist mit seinem Porträt von Dix aus der Neuen Nationalgalerie präsent, nicht zuletzt August Sanders Menschen des 20. Jahrhunderts, der monographische Teil dieser Ausstellung. Sanders Präsentation durchquert in Form eines V die komplette Ausstellung und stellt den verschiedenen thematischen Kapiteln dieser Ausstellung die jeweiligen Akteure an deren Seite.
Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die Betrachtung der Fotografie bis heute ziehen?
Der Fotografie kommt in der Tat eine Art Schlüsselrolle in jenen Jahren zu. Mit dem Aufschwung der illustrierten Presse – das wissen Sie bei Ullstein am allerbesten – entstehen ein völlig neues Tätigkeitsfeld und neue Berufsbilder. Zugleich kommt auch die Fotografie in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zu künstlerischer Reife, wovon die großen Ausstellungen zeugen aber auch wunderbare publizierte Texte. Gerade die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit mit ihrem Interesse für die Dinge findet in der Fotografie einen natürlichen Verbündeten. Die Dinge scheinen in der Fotografie „zu sich zu kommen“, zu ihrer „objektiven Bedeutung“, wie es Walther Petry in seinem Text „Die Bindung an die Dinge“ benennt, den wir als Faksimile ebenso zeigen wie in Originalabzügen wichtige Bilder von Aenne Biermann und Albert Renger-Patzsch. Auf der anderen Seite operiert die Ausstellung mit einer großen Anzahl von Presse-Fotografien als historischer Quelle, gerade um die sozialen Umbrüche jener Jahre zu zeigen. Die Fotografie ist Zeugin gleich mehrerer Emanzipationsbewegungen, sie selbst einbettet in eine große mediale Revolution dieser Jahre. Wir wissen, dass die Emanzipationen dieser Jahre im Januar 1933 zu Ende gehen werden, hingegen die mediale Revolution weiterging und die Nazis meisterhaft die Ästhetisierung der Politik beherrschten. Auch von diesen Umbrüchen ist der Ullstein-Verlag betroffen.
Die Ausstellung in Paris zeigt auch Originalwerke aus der fotografischen Sammlung Ullstein, die den Aufbruch ihrer Entstehungszeit, aber auch künstlerische Strenge und Konzentriertheit widerspiegeln. Dazu gehören Fotoreportagen von Sasha Stone.
Ja, wir sind sehr dankbar für die Leihgabe der wunderbaren Bilder von Sasha Stone, die in der Reportage von Fritz Zielesch unter dem sprechenden Titel „Das tausendpferdige Büro“ 1926 im UHU veröffentlicht worden sind, ein Essay über die Funktionalisierung und Rationalisierung der Büro-Arbeit, die wir als Originalabzüge zeigen können. Die Serie ist ein zentraler Baustein der Argumentation in dem Ausstellungskapitel zur Rationalité. Alle formalen Erfindungen der Fotografie, etwa die Großaufnahme, sind in dieser Reportage enthalten. Eine andere wunderbare Serie bilden die Montagen Wenn Berlin … wäre (vor 1929). Vier Blätter, in denen Berlin imaginiert nicht nur Berlin, sondern zugleich auch eine andere Stadt zu sein, in Wenn Berlin Konstantinopel wäre sieht man hinter dem Brandenburger Tor die Hagia Sophie einmontiert, alles äußerst fein gemacht. Auf der gedruckten Seite der Magazine von UHU, Die Dame und anderen Blättern bekommen diese Montagen eine andere Bild-Wirklichkeit. Fotografisch und grafisch sprüht es förmlich vor Erfindungsreichtum, eine Blüte, die der visuelle Journalismus nicht mehr wieder erreichen wird. Auch hinsichtlich der deutschen Mentalität dieser Jahre verrät diese Montage viel … in Paris wäre man nie auf die Idee gekommen, auch gleichzeitig eine andere Stadt sein zu wollen.
Das Centre Pompidou beherbergt eine umfassende Sammlung zur Fotografie des 20. Jahrhunderts, die seit nunmehr vierzig Jahren aufgebaut wird. Welche Schwerpunkte und Direktiven sind dabei für Sie entscheidend?
Für meine Kollegin Julie Jones und mich vom Fotografischen Department gilt es, eine große Tradition und Sammlung zu interpretieren. Natürlich gebührt mit unserem Schwerpunkt auf die Kunst der Moderne der Fotografie der Zwischenkriegszeit ein besonders großes Augenmerk. Hier versuchen wir Lücken zu füllen, dazu gehören auch die Aufnahmen von Fotografinnen wie Aenne Biermann. Zugleich möchten wir in großen Ensembles denken, also nicht nur Einzelbilder sammeln, sondern auch auf der Suche zu sein, nach größeren Konvoluten und Werkgruppen. Vor zwei Jahren konnten wir den Zyklus „Ci-Contre“ des in Litauen gebürtigen Künstlers Moi Ver – eine Biografie des 20. Jahrhunderts – aus der Sammlung von Ann und Jürgen Wilde erwerben, ebenso das fotografische Archiv von Paul Virilio (die Serie Bunker Archäologie) – für ihn war die Fotografie eine prägende Erfahrung, zugleich ist seine Bildwelt eine Erweiterung des dokumentarischen Paradigmas. Die vielen Facetten experimenteller und selbst-referentieller Fotografie und die dokumentarischen Formen stellen sicherlich Schwerpunkte dar. Nicht zuletzt bildet die zeitgenössische Bildkultur eine große Herausforderung für uns und wir versuchen Werke von Künstler*innen zu erwerben, die diese Bildkultur kritisch reflektieren und begleiten, etwa die deutsche Künstlerin Hito Steyerl (zusammen mit meiner Kollegin Marcella Lista aus der Medienkunst). Aber auch eine Figur wie Jochen Lempert interessiert uns, in dessen Bildern man auch einem wissenschaftlichen Blick bei der Arbeit zusieht, so wie dies auch in der Fotografie der Neuen Sachlichkeit und des Neuen Sehens der Fall ist, die Fotografie als Erweiterung der menschlichen Physiologie, allerdings radikal ins Subjektive und Persönliche gewendet. Ein wirklich deutscher Sommer dieses Jahr in Paris.
Vielen Dank, Herr Ebner, für dieses Gespräch!
Das Interview führte Dr. Katrin Bomhoff, ullstein bild collection.
Erstveröffentlichung am 07.06.2022.
Informationen zur Ausstellung finden Sie auf der Website Centre Pompidou.
Ausstellungsstation im Louisiana-Museum für moderne Kunst vom 14. Oktober 2022 bis 19. Februar 2023.
In der Galerie sehen Sie eine Auswahl der Originalfotografien zur „Neuen Sachlichkeit“ aus der ullstein bild collection, das entsprechende Dossier finden Sie bei ullstein bild.